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«Seit dem 7. Oktober 2023 hat die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu für Reservesoldaten ein Anreizsystem geschaffen, das die Grenzen zwischen ziviler und militärischer Gesellschaft auflöst. Der Soziologe Assaf Bondy und der Historiker Adam Raz werfen einen Blick auf die wirtschaftlichen Hintergründe der Einberufung der israelischen Reservist:innen und die damit einhergehende soziopolitische Einbindung der gesamten Gesellschaft.»

«Hinter dem Begriff „Kollateralschaden“ verbergen sich die Gesichter toter Frauen, Männer und Kinder. Die sprachliche Neutralisierung von Brutalität ermöglicht die Ausweitung und Eskalation des Krieges. Wie George Orwell in seinem Essay „Politics and the English Language“ (1946) bemerkte: „Die politische Sprache – und mit Abweichungen gilt dies für alle politischen Parteien, von den Konservativen bis zu den Anarchisten – ist darauf ausgelegt, Lügen wahrhaftig und Mord respektabel klingen zu lassen und reinem Geschwätz den Anschein von Solidität zu verleihen.“»

«Diese diskursiven Mechanismen wirken zusammen mit ebenso mächtigen wirtschaftlichen Kräften. Um diese soll es uns hier nun gehen. Denn die wirtschaftliche Transformation des Militärdienstes zeigt, wie materielle Anreize nicht nur Gehorsam, sondern auch aktive Beteiligung an Gräueltaten erkaufen können und so eine Kriegswirtschaft schaffen, die das Wohlergehen von Hunderttausenden Israelis an die Fortsetzung des Krieges bindet.»

«Der RDD ist nicht nur eine Zeiteinheit, sondern eine Form von Währung, mit der der Staat die aktive Partnerschaft seiner Bürger:innen bei seinem Projekt der Zerstörung und Vernichtung im Gazastreifen erkauft. Dieser Mechanismus funktioniert wie folgt: Der Staat zahlt einzelnen Reservist:innen fast 29.000 israelische Schekel (etwa 7.400 Euro) pro Monat, damit sie sich „freiwillig“ zum Reservedienst melden. Zum Vergleich: Der Mindestlohn in Israel betrug 2025 pro Monat 6.248 Schekel (1.596 Euro), während das Durchschnittsgehalt aller Branchen 14.800 Schekel (3.781 Euro) erreichte. Der RDD bietet somit fast das Fünffache des Mindestlohns und fast das Doppelte des nationalen Durchschnitts. Er konkurriert damit direkt mit den Hightech-Gehältern, die seit langem den Goldstandard für prestigeträchtige israelische Jobs bilden.»

«Das System ist strategisch darauf ausgelegt, eine breite Legitimation für die Zerstörung des Gazastreifens zu erreichen. Es ist integraler Bestandteil einer politischen Strategie, die darauf abzielt, die Beteiligung der Zivilbevölkerung an Militäroperationen genauso wie ihren Profit an ihnen zu intensivieren. Dieser ‚ökonomische Käfig‘ kommt zu dem oben genannten ‚diskursiven Käfig‘ hinzu. Gemeinsam halten sie die israelische Gesellschaft gefangen und schaffen Anreize, den politischen Vorgaben der Regierung zu folgen.»

«Die psychologischen und sozialen Dimensionen dieses ‚ökonomischen Käfigs‘ sind ebenfalls wichtig. Für den Reservisten, der ein hohes Monatsgehalt bezieht, wird es psychologisch und wirtschaftlich schwierig sein, die Kriegsverbrechen zu kritisieren, an denen er beteiligt ist oder die er miterlebt.»

«Bemerkenswert ist, dass das System auch private Auftragnehmer umfasst, die in Gaza schwere Maschinen bedienen und die für Abrissarbeiten, die eine vorsätzliche Zerstörung der zivilen Infrastruktur darstellen, eine beträchtliche Vergütung erhalten. Laut Berichten von Ha’aretz erhalten Bulldozer- und Baggerfahrer für diese Tätigkeiten hohe Entlohnungen, wobei für jedes abgerissene Haus etwa 1.500 US-Dollar ausgezahlt werden. Diese Auftragsbeziehungen erweitern das Wirtschaftsmodell über den traditionellen Militärdienst hinaus und schaffen zusätzliche Interessengruppen mit unmittelbaren finanziellen Vorteilen an der Fortsetzung des Krieges, während gleichzeitig das soziale Netzwerk derjenigen erweitert wird, die von der systematischen Zerstörung profitieren.»

«Wenn das Wohlergehen der Zivilbevölkerung direkt von militärischen Operationen und den damit verbundenen Kriegsverbrechen abhängt, entsteht eine Gesellschaft, die strukturell in die Fortsetzung krimineller Politiken involviert ist. Die Hunderttausenden Israelis, die heute direkt von diesem System abhängig sind, sowie die weitergehenden sozialen Netzwerke, die sie repräsentieren, bilden eine einflussreiche Interessengruppe für die Fortsetzung dieser Politik, unabhängig von strategischer Wirksamkeit, moralischen Erwägungen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen.»

«Für Israel wirft diese Entwicklung grundlegende Fragen hinsichtlich des Weiterbestehens seiner Demokratie auf: Immerhin hat ein erheblicher Teil der Bevölkerung ein direktes wirtschaftliches Interesse an der Fortsetzung von Kriegsverbrechen. In diesem Zusammenhang besteht der wahre Preis des RDD nicht in seinen finanziellen Kosten, so hoch diese auch sein mögen, sondern in der Verwandlung von Hunderttausenden israelischen Staatsbürgern in aktive Kollaborateure mit einem unmittelbaren wirtschaftlichen Interesse an der zerstörerischsten Militäroffensive in der Geschichte des Landes.»

«Schließlich ist ein Ergebnis dieser Transformation auch eine Vereinigung der israelischen Gesellschaft durch Verbrechen. Diese ist nicht nur ein soziologisches Phänomen, das Aufschluss über die vorherrschende gesellschaftliche Mentalität gibt, sondern auch eine politische Realität. Um dies begrifflich zu fassen, sprechen wir von criminal community. Damit möchten wir hervorheben, dass die Aufrechterhaltung der verbrecherischen Kriegsführung eine verbindende Kraft zwischen den in der israelischen Gesellschaft verstreuten Individuen besitzt, die direkt oder indirekt an ihr teilhaben.»

https://geschichtedergegenwart.ch/die-zerstoerung-gazas-und-prozesse-der-komplizenschaft/