Qualitativ erstklassiger Leserbrief von Prof. Dr. Maria Reicher-Marek zu einem Artikel in der TAZ https://taz.de/Israelische-Siedler-greifen-Medien-an/!6098177/ Wirklich lesenswert, auch um sich selbst hinsichtlich rassistischer Tendenzen immer wieder zu hinterfragen und zu prüfen:
Sehr geehrte Frau Bilanceri,
Am 16. Juli veröffentlichte die TAZ einen Bericht von Ihnen unter der Überschrift “Im Westjordanland sind Journalist*innen des US-Senders CNN von extremistischen Siedlern angegriffen worden. Das ist kein Einzelfall.”
Es ist gut und wichtig, dass über die Siedlergewalt im Westjordanland im Allgemeinen und gegen Journalst*innen im Besonderen berichtet wird.
Ihr Beitrag ist informativ und weitgehend sachlich.
Ganz besonders freut mich, dass Sie nicht versäumt haben zu erwähnen, dass es palästinensischen Journalist*innen im Westjordanland noch viel schlechter geht als ihren ausländischen Kolleg*innen.
Aber ein oder zwei Dinge irritieren mich. Sie schreiben:
“Sayfollah „Saif“ Musallet, der 20-jährige US-Amerikaner palästinensischer Herkunft, über den das Team berichten wollte, wurde angeblichvon israelischen Siedlern zu Tode geprügelt. In Sinjil, einem 6.000-Seelen-Dorf, eingenistet zwischen Olivenhainen und Hügeln. Bei denselben Tumulten starb ein weiterer palästinensischer Mann. Musallets Familie wirft den Israelis vor, dem Krankenwagen stundenlang den Weg versperrt zu haben, sodass jede Hilfe für den jungen Mann zu spät kam.” (Hervorhebung von mir)
Warum “angeblich”? Haben Sie Zweifel an dieser Version des Hergangs?
Unter anderem berichtete nicht nur Al Jazeera, sondern auch der Guardian und PBS ausführlich über dieses Verbrechen (siehe https://www.aljazeera.com/news/2025/7/17/the-love-he-gave-family-vows-to-keep-sayfollah-musallets-memory-alive; https://www.theguardian.com/us-news/2025/jul/16/sayfollah-musallet-west-bank-florida; https://www.pbs.org/newshour/show/palestinian-american-ambushed-on-family-land-and-killed-by-israeli-settlers-cousin-says).
Alle genannten Medien zitieren mehrere Zeugenaussagen, Freunde und Verwandte des Toten. Weitere Zeugen sind die Sanitäter, die dem jungen Mann zu Hilfe kommen wollten. Ich konnte keinerlei Hinweise darauf finden, dass diese Zeugen unglaubwürdig sind.
Lediglich die Times of Israel schreibt “allegedly slain by settlers” und “allegedly being beaten by extremist Israelis”.
Das anscheinend harmlose Wörtchen “angeblich” drückt Distanzierung, Zweifel, Unsicherheit aus. Laut Duden ist es bedeutungsgleich mit “wie behauptet wird”, “vermeintlich”, “nicht verbürgt”.
Können Sie mir die Gründe Ihres Zweifels erklären? Generelle Vorsicht kann es ja nicht sein, denn Sie haben ja auch nicht geschrieben: “Im Westjordanland sind Journalst*innen des US-Senders CNN angeblich von extremistischen Siedlern angegriffen worden.”
Die Aussagen der CNN-Mitarbeiter/innen genügen Ihnen offenbar also, um die Schilderung des Hergangs zu “verbürgen”. Aber die Aussagen der palästinensischen Zeugen für die Ermordung von Saif Musallet genügen Ihnen offenbar nicht. Warum nicht?
Zweifeln Sie eigentlich auch daran, dass Saif Musallet tot ist? Wenn nein, was vermuten Sie denn, wie er zu Tode gekommen ist?
Stellen Sie sich einmal vor, in einem Zeitungsartikel über Angehörige von Opfern des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober stünde folgender Satz: “Angeblich wurden mehrere seiner Familienmitglieder bei dem Terroranschlag ermordet.”
Wie empfinden Sie das?
Das ist die eine Sache, die mich irritiert.
Die andere ist diese: Sie schreiben (wie schon oben zitiert), “Bei denselben Tumulten starb ein weiterer palästinensischer Mann.”
Nun, diese Formulierung lässt unterschiedlichste Interpretationen zu: Jener Mann könnte an einem Herzinfarkt gestorben sein, infolge der Aufregung. Oder es könnte ihn versehentlich ein von einem Palästinenser geworfener Stein am Kopf getroffen haben. Oder er könnte auf der Flucht unglücklich gefallen sein und sich das Rückgrat gebrochen haben.
Nach meinem Kenntnisstand jedoch ist jener zweite Tote erschossen worden, und zwar ebenfalls von jüdischen Siedlern, die ihn zuvor verfolgt und geschlagen hatten. Seine Leiche wurde erst Stunden später von den Dorfbewohnern gefunden.
Wussten Sie das nicht, oder haben Sie auch daran Zweifel?
Ich unterstelle Ihnen keine bösen Absichten. Aber in meinen Augen sind die beiden von mir erwähnten Punkte Symptome einer immanenten rassistischen Voreingenommenheit: Zeugnisse von Palästinsern gelten per se als tendenziell unglaubwürdig, während Berichte aus israelischen Medien oft unhinterfragt übernommen werden. Das ist leider in der deutschen Presse kein Einzelfall.
Ich habe auch erst vor ziemlich kurzer Zeit verstanden, dass wir alle (auch die “aufgeklärten”, “gebildeten”, “weltoffenen” unter uns) nicht frei sind von rassistischen Vorurteilen.
Das geht nicht von heute auf morgen weg. Wir müssen alle sehr achtsam sein!
Mit freundlichen Grüßen
Maria Reicher-Marek