Die Leiterin Yuli Novak begründet, wie sie zu diesem Schluss kommt.
Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem hat vor Kurzem einen Bericht über Israels Krieg im Gazastreifen herausgebracht. Der Titel: „Our Genocide“ – unser Völkermord. Erstmals erheben israelische Nichtregierungsorganisationen – neben B’Tselem auch „Ärzte für Menschenrechte – Israel“ – diesen Vorwurf: dass das Land, das nach dem Holocaust gegründet wurde, selbst einen Völkermord begehe. Yuli Novak leitet B’Tselem.
Yuli Novak:
«Wir wissen seit einem Jahr, dass Israel an den Palästinensern im Gazastreifen einen Völkermord verübt. Seitdem fragen wir uns, was wir tun können, tun müssen. Die Antwort ist dieser Bericht. Er stellt nicht nur fest, dass ein Völkermord geschieht.»
«Ein Genozid fällt nicht vom Himmel, in Israel sind ihm Jahrzehnte der Apartheid und der Separation von jüdischen Israelis und Palästinensern vorausgegangen.»
«Drei unserer Mitarbeiter haben über Jahre recherchiert, inzwischen arbeiten sie von Kairo aus. Wir können mit den Menschen sprechen, wir haben Hunderte Zeugenaussagen. Es mangelt nicht an Augenzeugenberichten, Informationen, nicht für unseren Bericht, nicht für die Welt. Wir wissen genug.»
«Aus diesem Grund sind für uns diese juristischen Expertendebatten weniger wichtig als die Beschreibung dessen, was sich vor unseren Augen abspielt: dass ein politisches System auf die Vernichtung einer sozialen Gruppe abzielt, und dass Israels politische und militärische Führung aus ihren Absichten kein Geheimnis macht. Wir sehen ja nicht nur die Zerstörung von 80 Prozent aller Gebäude im Gazastreifen, von Krankenhäusern, Schulen, Moscheen, nicht nur eine Politik des Aushungerns.»
«Es geht viel tiefer, umfasst alle Bereiche palästinensischen Lebens. Es gibt keine soziale Struktur mehr, keine internationalen Organisationen, die die Gesellschaft zusammenhalten könnten. Palästinensisches Leben als solches soll hier unmöglich gemacht, die Zukunft der Menschen ausgelöscht werden. Man muss kein Jurist sein, um zu begreifen, was in Gaza geschieht: dass hier eine Vorstellung von Menschlichkeit zerstört wird, das Prinzip, dass Menschen ein Recht auf Leben und Schutz haben.»
«Ich bin die Enkelin von Holocaust-Überlebenden, wie so viele in Israel. Ich bin aufgewachsen mit den Bildern vom Mord an den europäischen Juden, wie wir alle. Wahrscheinlich weiss kein Volk so gut über Völkermorde Bescheid wie wir. Dabei hat mich eine Frage besonders beschäftigt: Was ist das für eine Gesellschaft, die oft über viele Jahre einen Völkermord verübt, legitimiert, ignoriert oder leugnet? Und genau dies erlebe ich jetzt in Israel.»
«Wenn ich mir Israel heute anschaue, komme ich zu dem Schluss: Meine Gesellschaft nimmt genozidale Züge an. Es gibt eine wachsende, aber immer noch winzige Zahl von Israelis, denen es geht wie mir, die sich fragen, was sie dagegen tun können. Aber 99 Prozent der Israelis sind sich dessen nicht einmal bewusst. Sie haben auch nichts von unserem Bericht gehört.»
«Wenn man einen beliebigen Nachrichtensender in Israel einschaltet oder Zeitungen liest – vielleicht mit Ausnahme von Haaretz –, dann fördern, schüren, unterstützen oder leugnen alle anderen Medien in Israel den Genozid.»
«Nehmen Sie die Debatte über das Aushungern der Menschen in Gaza. Im Fernsehen geht es nicht um die Frage, ob es die Hungersnot geben sollte oder nicht, sondern nur noch darum, ob tatsächlich die ganze Bevölkerung verhungern sollte.»
«Was Israel im Gazastreifen tut, hat mit dem Kampf gegen die Hamas nichts zu tun. Millionen Menschen verhungern zu lassen, hat mit dem Kampf gegen die Hamas wenig zu tun. Ausserdem: Ich glaube meiner Regierung kein Wort. Ich höre, wenn sie auf Hebräisch zu ihren Anhängern sprechen, prominente Minister, nicht nur die bekannten rechtsradikalen Politiker, sprechen von ethnischen Säuberungen in Gaza, die sie „freiwillige Ausreise“ nennen. Am Ende geht es nur darum, dass Israel die volle Kontrolle bekommt.»
«Ohne die Unterstützung europäischer Regierungen und natürlich der USA könnte Israel diesen Völkermord nicht begehen. Das muss man klar sehen.»
«Ich verstehe die Komplexität der deutschen Israelpolitik sehr gut. Aber Deutschlands Verantwortung für seine vergangenen Verbrechen besteht nicht nur gegenüber dem jüdischen Volk, sondern gegenüber der gesamten Menschheit. Und die bittere Realität ist: Die Nachfahren derer, die den geradezu paradigmatischen Genozid durch Deutschland erlitten haben, begehen nun selbst einen.»
«Die israelische Regierung hat sich längst von der Wirklichkeit gelöst, in Israel und in der Welt. Ich sehe nicht, dass hier irgendein Mechanismus, sei er sozialer oder juristischer Art, den Genozid aufhalten könnte. Deshalb liegt es in der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, uns zu helfen. Und wenn ich sage „uns“, meine ich uns alle. Wenn diese völkermörderische Regierung so extreme Gewalt im Gazastreifen anwenden kann, dann tut sie es womöglich bald im Westjordanland, später gegenüber den Palästinensern in Israel und schliesslich gegen alle, die sich gegen sie stellen. Das Schlimmste liegt noch vor uns.»