Wir brauchen innerhalb der Ethik einen Wechsel der Perspektive: Auch nichtmenschliche Lebewesen müssen in den Kreis derjenigen aufgenommen werden, die über moralische Rechte verfügen. Am Beispiel des Fleischkonsums lässt sich zeigen, dass wir den falschen neoliberalen Freiheitsbegriff überwinden müssen, der diese Rechte negiert.
«„Jede Erweiterung der Freiheit ist eine große Wette darauf, dass ihr guter Gebrauch ihren schlechten überwiegen wird.“ Das schrieb der Philosoph Hans Jonas bereits im Jahr 1979 in seinem bahnbrechenden Buch Das Prinzip Verantwortung. In Anbetracht der unleugbaren Tatsache, dass wir dabei sind, unsere gemeinsamen Lebensgrundlagen in einem atemberaubenden Tempo zu zerstören, deutet vieles darauf hin, dass wir dabei sind, diese Wette zu verlieren. Und von dieser Wette hängt nicht nur die Zukunft unseres Planeten, sondern auch die Zukunft der liberalen Demokratien des Westens ab.»
«Dass wir uns durch den fortgesetzten Missbrauch der Freiheit in diese verzweifelte Lage manövriert haben, ist traurig und ein Armutszeugnis für unsere Spezies, die sich selbst in einem Anfall von Größenwahn das Etikett Homo sapiens auf die Brust geklebt hat. Unsere derzeitige Situation ist vor allem eine Folge des neoliberalen Denkens, das sich spätestens seit den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts nekrotisierend durch weite Teile der Gesellschaft gefressen hat.»
«Denn natürlich ist es nicht die Freiheit als solche, die zu kritisieren ist, sondern lediglich eine spezifische Definition von Freiheit, die glaubt, alles tun zu können, was sie will und was ihr möglich ist, aber die Verantwortung für die Konsequenzen ihres Handelns nicht übernehmen möchte oder sich schlicht nicht darum schert. Dieses falsche Freiheitsverständnis gilt es, zugunsten wirklicher Freiheit zu überwinden.»
«Aber nicht nur im Straßenverkehr, sondern beinahe in jedem anderen Lebensbereich unterwerfen wir uns gewissen Regeln, weil wir wissen, dass anderenfalls ein gedeihliches Zusammenleben mit anderen Menschen nur schwer vorstellbar wäre. Wir akzeptieren somit, dass Freiheit nicht bedeutet, alles tun zu dürfen, was man kann und möchte, sondern dass meine Freiheit in der Regel da endet, wo die berechtigten Interessen anderer tangiert werden. Man nennt das schlicht „soziale Freiheit“. Der Sozialphilosoph Axel Honneth versteht darunter die Freiheit in Gemeinschaft und Solidarität als Gegenentwurf zum Liberalismus, der einzig die individuelle und egoistische Freiheit betont.»
«Was wäre aber, wenn der Staat Ge- und Verbote auf Bereiche ausdehnt, die die berechtigten Interessen nichtmenschlicher Lebewesen tangieren bzw. ignorieren? Nehmen wir einmal den Bereich des Fleischkonsums. Denn hier wird nicht nur irgendein Interesse eines Lebewesens tangiert, sondern das zentrale Interesse überhaupt: Das Interesse des betroffenen Tieres am Leben zu bleiben. Solche Ge- und Verbote hätten zweifellos einen beispiellosen gesellschaftlichen Aufschrei zur Folge, begleitet vom Vorwurf der Ökodiktatur, während kaum jemand den Vorwurf der Verkehrsdiktatur erheben würde. Warum messen wir hier mit zweierlei Maß?»
«Doch wenn ich mit 180 Stundenkilometern durch die Innenstadt fahre, besteht immerhin noch die Möglichkeit, niemanden zu verletzen. Im Gegensatz dazu setzt Fleisch zu essen die Tötung von Tieren zwangsläufig voraus. Ich akzeptiere die Einschränkung meiner Freiheit demnach nur, weil es sich bei den potenziellen Opfern meines Handelns um Menschen handelt, die ich für grundsätzlich wertvoller halte als Tiere, gleich welcher Art.»
«Wenn ich Fleisch esse, akzeptiere ich außerdem, dass dafür Tiere, speziell in der Massentierhaltung, unter miserablen Bedingungen gehalten und eines Tages getötet werden. Sie werden nicht mehr als unsere fühlenden und mit Selbstbewusstsein ausgestatteten Mitgeschöpfe wahrgenommen, sondern zu reifizierten quasi-inerten Objekten innerhalb eines erbarmungslosen Ausbeutungs- und Produktionsprozesses degradiert. Ich werde hier nicht auf die entsprechenden Details eingehen. Jede und jeder hat die Freiheit, sich über diese Vorgänge zu informieren und niemand kann sich mit der bekannten Ausrede behelfen, er hätte von nichts gewusst. Heute können alle alles wissen. Das ist der Fluch und die große Chance der Moderne, die uns in eine kaum zu ertragende Verantwortung stürzt. Wie und ob wir dieser Verantwortung gerecht werden, entscheidet nicht zuletzt über unsere Zukunft.»
«Ein weiterer Grund für unsere Weigerung, im Bereich des Fleischkonsums eine Beschneidung unserer Freiheit zu akzeptieren, liegt in der Tatsache begründet, dass wir keine direkten Folgen unseres Verhaltens zu spüren bekommen. Wenn ich mich nicht an die Straßenverkehrsordnung halte und davon ausgehen und akzeptieren muss, dass es auch die anderen nicht tun, werde ich möglicherweise schon an der nächsten Kreuzung dafür mit dem Tod oder einer schweren Verletzung bestraft. Das heißt, meine Weigerung, jegliche Einschränkung meiner Freiheit (und die der anderen) zu akzeptieren, konfrontiert mich in jeder Sekunde mit den daraus folgenden Konsequenzen. Mein täglicher Fleischkonsum tut das nicht. Zumindest nicht unmittelbar. Aber natürlich weiß inzwischen jeder von uns, dass unser Fleischkonsum massive ökologische Auswirkungen hat, die bereits in Form von Zoonosen, Antibiotikaresistenzen, Naturzerstörung und nicht zuletzt in Form des Klimawandels auf uns zurückschlagen. Von individuellen negativen Folgen wie Gicht, Krebs, Herz- Kreislauferkrankungen u.a. einmal abgesehen.»
«Selbstverständlich wäre es allemal besser, wenn die Menschen ihre vermeintliche Freiheit, Fleisch zu essen, aus Einsicht in die geschilderte Problematik, freiwillig begrenzen würden. Darauf deutet zurzeit allerdings nichts hin. Eher im Gegenteil. Wer das nicht möchte und auch staatliche Verbote in diesem Bereich ablehnt, muss sich allerdings fragen lassen, wie er das Problem anderweitig in den Griff bekommen will. Und dass Fleischkonsum auf allen Ebenen ein gewaltiges Problem darstellt, wird kein klardenkender Mensch bestreiten.»
«Da freiwillige Selbstbeschränkung in diesem Zusammenhang in der Tat eine Illusion zu sein scheint, bleibt am Ende keine andere Lösung, als dass der Staat auf politischer Ebene tätig werden und entsprechende Gesetze verabschieden muss.»
«Es geht schlicht um einen Wechsel der Perspektive: Weg vom anthropozentrischen Blickwinkel, der nur die eigenen Rechte und Bedürfnisse sieht, hin zu einer ganzheitlichen Sichtweise, die auch die Rechte und Bedürfnisse der nichtmenschlichen Lebewesen anerkennt.»
«Die individuelle Freiheit ist ein hohes Gut. Die Einschränkung individueller Freiheitsrechte ist nur dann gerechtfertigt, wo die berechtigten Interessen anderer Lebewesen massiv tangiert werden und dem keine anderen Rechte entgegenstehen.»
«Das heißt, auch andere Praktiken, die dazu geeignet sind, nichtmenschliches Leben zu zerstören oder in seiner Entfaltung zu hindern, müssen kritisch hinterfragt und wenn nötig verboten werden. Niemand hat die Freiheit, diesen Planeten und das Leben auf ihm zu zerstören und künftigen Generationen damit die Grundlage für ein gutes Leben zu nehmen. Am Ende muss es darum gehen, die libertäre Konzeption von Freiheit, wie sie der Neoliberalismus vertritt, und die einseitig auf die Freiheit des Individuums auf Kosten der nichtmenschlichen Lebenswelt abzielt, grundlegend infrage zu stellen.»
Anmerkung: Ein hervorragender Artikel, der weitestgehend auch meine Sicht der Dinge widerspiegelt. Allerdings halte ich es für eher unwahrscheinlich, dass die Politik Gesetze gegen den Fleischkonsum – geschweige denn gegen den Konsum von Tierprodukten – verabschieden wird. Denn Politiker mit einem solchen Programm würden von der Mehrheit der fleisch(fr)essenden Bevölkerung schlicht und einfach nicht gewählt werden.
Damit schliesst sich der Teufelskreis: Die Mehrheit der Bürger wählt jene Politiker, die sie – und ihre Kinder – entgegen jeder Vernunft und Moral in den Abgrund führen. Aus diesem Kreislauf gibt es wahrscheinlich kein Entkommen. Meine einzige Hoffnung ist, dass ich mich irre.
Wie schon geschrieben..der Nürnberger Codex gilt auch für nichtmenschliche Persönlichkeiten. Die Gesetze sind gesetzt aber die Bürger bürgen mit ihrem Wahn und ihrer Gesundheit und leben im Dauerkonkurs. Die Vollstrecker sitzen in den Wartezimmern der Arztpraxen und den Krankenbetten. Achso.. die Einträge auf den Grabsteinen sprechen eine endgültige Sprache…aber er fragt schon Tote?