Prof. Dr. Jürgen Mackert in Middel East Eye vom 19. Oktober 2025:
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Wir erleben einen weiteren Akt in der Tragödie des historischen Versagens der sogenannten deutschen Eliten, sich mit Völkermord und Kolonialismus auseinanderzusetzen.
In einem BBC-Interview im Jahr 1996 wurde der amerikanische Intellektuelle Noam Chomsky vom Moderator Andrew Marr gefragt, woran er erkennen könne, dass dieser sich selbst zensiere.
Chomsky antwortete:
„Ich sage nicht, dass Sie sich selbst zensieren. Ich bin sicher, Sie glauben alles, was Sie sagen. Aber was ich sage, ist: Wenn Sie etwas anderes glauben würden, säßen Sie nicht dort, wo Sie jetzt sitzen.“
Die freiwillige Verinnerlichung hegemonialer Ansichten und der feste Glaube an sie machen Menschen nicht nur zu Journalistinnen und Journalisten in liberalen Medien, sondern befördern sie auch in die gesellschaftlichen Eliten.
Angesichts des Völkermords an den Palästinensern in Gaza ist Deutschland ein hervorragendes Beispiel dafür, wie dieser allgemeine soziale Mechanismus funktioniert – und welche katastrophalen Folgen er hat.
Deutschlands „Eliten“ in Kultur, Medien, Wissenschaft, Politik, Kirchen, Gewerkschaften und sozialen Organisationen wären nicht dort, wo sie heute sind, wenn sie nicht den Mächtigen unterwürfig folgten.
Diese Unterwürfigkeit gegenüber Staat und Obrigkeit kennt für diese opportunistischen „Eliten“ keine Grenzen – selbst dann nicht, wenn es um Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht.
Mit wichtigen, aber seltenen Ausnahmen haben die verschiedenen „Eliten“ der deutschen Geschichte stets gehorcht und nie ihre Politiker in Frage gestellt – weder bei den Verbrechen der deutschen Siedlerkolonialisten in Namibia und anderen Teilen Afrikas, noch beim enthusiastischen Jubel des nationalistisch-bildungsbürgerlichen Milieus, als die politische Klasse die Welt in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs stürzte, noch in ihrer fanatischen Unterstützung für die Vernichtungsorgien der Nazis.
Ihre laute Zustimmung zu den abscheulichen Verbrechen des wilhelminischen Kaiserreichs und der Nazis findet heute ihr Pendant in ihrem kollaborativen Schweigen, während Deutschland den von der zionistischen Regierung an den Palästinensern verübten Völkermord leugnet und finanziert.
Selbstauferlegte Unwissenheit
Wenn es um die zionistische Ideologie und das israelische Regime geht, sind für deutsche „Eliten“ zwei Dinge tabu:
Erstens sind sie entweder unfähig oder unwillig, den Unterschied zwischen Antisemitismus und Antizionismus anzuerkennen.
Ob sie intellektuell nicht in der Lage sind, diesen entscheidenden Unterschied zu begreifen, oder ob sie wider besseres Wissen handeln – sie dürfen ihn schlicht nicht ziehen.
Denn nur indem Antisemitismus und Antizionismus gleichgesetzt werden, können diese „Eliten“ über Antisemitismus lamentieren, wenn sich Palästinenser – im Einklang mit dem Völkerrecht – völlig legitim gegen ihre siedlerkolonialen Unterdrücker zur Wehr setzen.
Zweitens herrscht unter Deutschlands „Eliten“ Konsens darüber, dass es keine Diskussion über die Rolle und Bedeutung von Imperialismus, Kolonialismus und Siedlerkolonialismus geben darf – weder in Bezug auf die eigene Geschichte noch auf die Israels.
So schweigen die deutschen „Eliten“ über die gegenwärtigen Folgen dieser weltgeschichtlichen Prozesse. Dieses Schweigen – und das zum Schweigen bringen von Abweichlern, wozu in Deutschland selbstverständlich auch die vermeintlich linke Partei Die Linke gehört – bedeutet nichts anderes als stillschweigende Unterstützung des Völkermords in Gaza, der ethnischen Säuberung im Westjordanland und nicht zuletzt der zionistischen Angriffskriege gegen Libanon, Syrien, Iran und Jemen – alles im Dienst der Schaffung eines „Groß-Israel“.
So wie die deutschen „Eliten“ einst den totalen Krieg zur Schaffung eines „Großdeutschlands“ unterstützten.
Diese expansionistische Idee gründet auf dem zionistischen Mythos, Palästina sei „ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ – was stark an die Nazi-Parole erinnert, Deutschland sei „ein Volk ohne Raum“.
Letztere wurde erstmals von Hans Grimm geprägt, der diese koloniale Idee 1926 in seinem Buch Volk ohne Raum popularisierte.
Diese Vorstellung vom „Raum“ – dem sogenannten Lebensraum – wurde von den Nazis zur Rechtfertigung kolonialer Expansion nach Osten benutzt, um „Großdeutschland“ zu schaffen.
Sie findet heute ihre religiös aufgeladene Entsprechung in der zionistischen Expansionspolitik zur Schaffung eines „Groß-Israel“.
Israels Premierminister Benjamin Netanjahu, gegen den der Internationale Gerichtshof wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermittelt, machte dies offen deutlich, als er bei den Vereinten Nationen eine Karte präsentierte, die dieses „Groß-Israel“ zeigte.
Die strikte Einhaltung dieser beiden Denkverbote erlaubt es den deutschen „Eliten“, sich auf die Seite des zionistischen Regimes zu stellen, seine rassistische Ideologie und barbarische Besatzung Palästinas zu verteidigen – und über den Völkermord an der palästinensischen Zivilbevölkerung zu schweigen.
Schändliches Verhalten
Der starke Wunsch, in selbstauferlegter Unwissenheit zu verharren und beiden Denkverboten gehorsam zu folgen, zeigt sich immer wieder im Verhalten vermeintlicher Eliten – insbesondere in Kultur und Wissenschaft.
Während zweier Jahre des Völkermords hat das deutsche PEN-Zentrum kein Wort der Verurteilung gegen Israels gezielte Angriffe auf palästinensische Dichter und Schriftsteller geäußert.
Im Gegenteil: Der deutsche PEN distanzierte sich sogar von PEN International, das im Juni in einer Erklärung ein Waffenembargo gegen Israel und ein Ende des Genozids forderte – mit der Begründung, diese Haltung sei „zu einseitig“.
Innerhalb dieser kulturellen „Elite“ spielt die Nobelpreisträgerin Herta Müller eine besonders widerwärtige Rolle. Sie scheut sich nicht, gemeinsame Sache mit dem genozidalen Regime in Tel Aviv zu machen und die Propaganda und Lügen der israelischen Besatzungskräfte zu wiederholen.
Ihr „Offener Brief“, durchzogen von weiß-suprematistischen Untertönen, ist ein unwürdiges Pamphlet, das Müllers völlige Unkenntnis über die jahrzehntelange gewaltsame Kolonialbesatzung Palästinas offenbart.
Er enthält sogar groteske Nazi-Vergleiche mit der Hamas – zu einer Zeit, in der viele Stimmen, auch jüdische, darauf hinweisen, dass Israel heute „eine vollständige Kopie“ des nationalsozialistischen Deutschlands sei.
Dieser arrogante Brief ist ein Eingeständnis moralischen Versagens, ein Beleg für historische Unwissenheit und Lernverweigerung – und doch hat die FAZ am Sonntag sie gerade in ihre Liste der „besten Denkerinnen Deutschlands“ aufgenommen.
Deutschland – das „Land der Dichter und Denker“.
Akademisches Schweigen
Darüber hinaus erklärten Robert Schlögl und Joybrato Mukherjee, die Präsidenten des renommierten Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, in einer Stellungnahme zu den „Entwicklungen in Gaza und Israel“, sie seien „zutiefst schockiert über die humanitäre Krise in Gaza“ und bekräftigten dann ihre „Mission“:
„Wir stehen in unerschütterlicher Solidarität mit dem Staat, dem Volk und der Wissenschaftsgemeinschaft in Israel. Wir lehnen daher weiterhin Boykottaufrufe gegen israelische wissenschaftliche Organisationen, Universitäten und Wissenschaftler klar ab und setzen uns für den wissenschaftlichen Austausch mit israelischen und palästinensischen Institutionen ein.“
Was reden diese „Elite“-Präsidenten da?
Sind sie so abgestumpft, dass sie tatsächlich behaupten, nichts davon gehört zu haben, dass Israel sämtliche palästinensischen Universitäten in Gaza zerstört hat?
Warum verlieren sie kein Wort über die getöteten Wissenschaftler und Studierenden in Gaza – und bekunden stattdessen „unerschütterliche Solidarität“ mit den Tätern des Völkermords?
Am 15. September veranstaltete zudem die Volkswagen Stiftung in Hannover eine Feier zum hundertjährigen Bestehen der Hebräischen Universität und des Technion unter dem Titel „Brücken des Wissens“, gemeinsam mit dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur und der Technion-Gesellschaft.
Diese Universitäten waren im Verlauf ihrer hundertjährigen Geschichte sowohl an der ethnischen Säuberung Palästinas beteiligt als auch heute am Genozid.
Trotzdem tut die deutsche Wissenschaftselite so, als wüsste sie davon nichts – oder ignoriert bewusst, dass sie mit Institutionen kooperiert, die Völkermord ermöglichen.
Ein historisches Versagen
Heute würde es – um einer deutschen Elite würdig zu sein – vor allem bedeuten, Rückgrat zu zeigen und sich zu weigern, den Völkermord an den Palästinensern und seine Leugnung durch die deutsche und zionistische Regierung zu legitimieren.
Zu einer solchen Elite zu gehören, hätte seinen Preis: Man müsste Verantwortung übernehmen und nach Prinzipien handeln.
Es würde Mut und Furchtlosigkeit erfordern, das Böse beim Namen zu nennen.
Doch Deutschlands angebliche „Elite“ und ihre „besten Denker“ sind zu obrigkeitshörig und zu feige, um die Konsequenzen zu tragen, die eine kompromisslose Haltung gegen den zionistischen Völkermord mit sich bringen würde.
Also schweigen sie – und bleiben die gehorsamen Untertanen, die sie immer waren.
Trotz des Waffenstillstands geht der Völkermord mit voller deutscher Unterstützung weiter.
Wir erleben einen weiteren Akt in der Tragödie des historischen Versagens der sogenannten deutschen Eliten.
Jürgen Mackert ist Professor für Soziologie an der Universität Potsdam.
Er war Gastprofessor für Politische Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Lehrstuhlinhaber für die Struktur moderner Gesellschaften an der Universität Erfurt.
Zu seinen neuesten Büchern gehören On Social Closure: Theorizing Exclusion, Exploitation, and Elimination (Oxford University Press, 2024) und Siedlerkolonialismus. Grundlagentexte und aktuelle Analysen (hrsg. mit Ilan Pappé; Nomos, 2024).
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